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OPERN- UND KULTURFAHRTEN
Rückblick
Ballett ANNA KARENINA
von John Neumeier im Staatstheater Stuttgart
Stuttgart
Es war wieder einmal einer jener Ballettabende, die man nicht mehr missen möchte, auch wenn es uns John Neumeier durch die inhaltliche Ausrichtung am gleichnamigen Werk von Leo Tolstoi nicht gerade leicht gemacht hat, dem im Tanz dargebotenen Handlungsbogen zu folgen.

Auch dieses Mal gestaltete sich die Hinfahrt am 20.03.2025 so problemlos, dass alle die Einführung um 18:15 Uhr pünktlich wahrnehmen konnten. Insgesamt durften nun alle Freundinnen und Freunde des Balletts einen sehr entspannten Verlauf genießen und konnten sich voll und ganz dem fulminanten Tanz über Sehnsucht, Liebe und Leid zuwenden.
Der erste Akt führt uns ein in die Lebenswirklichkeit der Akteure, denn während Alexej Karenin (David Moore) in St. Petersburg für seine Wiederwahl eine politische Kundgebung abhält, trainiert Graf Alexej Wronski (Martí Paixà) mit seinem Regiment in Moskau für ein Lacrosse-Spiel.
Anna Karenina (Miriam Kacerova), die sich langweilt und sich zunehmend vernachlässigt fühlt, bekommt einen Anruf Ihres Bruders Stiwa (Clemens Fröhlich), der sie bittet, in einem ernsten Ehestreit mit seiner Frau Dolly (Mackenzie Brown) zu vermitteln. Schon fast vor Ort begegnet sie zufällig Graf Wronski: Ein den weiteren Weg bestimmendes Zusammentreffen. Anna verliebt sich leidenschaftlich. Sie wird aber auch Zeugin eines schrecklichen Unfalles eines Arbeiters. Eine Vorahnung deutet sich schon hier an; ein Traumbild des Scheiterns, des Todes gar, findet hier seinen Beginn, dargestellt durch einen Muschik (Jason Railly).
Und als wenn diese kurze Schilderung der sich anbahnenden Irrungen und menschlichen, allzu menschlichen Wirrungen noch nicht genug wäre, träumt derweil der aristokratische Grundbesitzer Lewin (Matteo Miccini) von Kitty (Yana Peneva), Dollys Schwester.
Obgleich Anna sehr an Ihrem ersten Sohn Serjoscha (Alexei Orohovsky) hängt, verlässt sie Alexej Karenin und bringt Wronskis Kind zur Welt. Derweil erleidet Kitty einen Nervenzusammenbruch und Dolly ist entschlossen, Ihre Familie zu verlassen.
Trotz alledem scheinen sich die Verwicklungen zum Wohle aller aufzulösen; Versöhnungen werden möglich; neue Wege des Zusammenlebens zeichnen sich ab (auch wenn das Schmunzeln über die Traktorfahrt auf der Bühne kaum überhörbar ist). Und die tänzerischen Leistungen – insbesondere von Miriam Kacerova, Martí Paixà und einem großartigen Jason Railly – begeistern alle schon vor der Pause.

Der zweite Akt beschreibt den Weg in die Katastrophe. Ihres scheinbaren Glückes zum Trotz zeigt sich bald, dass Anna Ihren ersten Sohn Serjoscha nicht vergessen kann. Zudem beginnt sich ein wiederkehrender Traum, ein Albtraum, über den miterlebten Unfall des Muschik wie ein Schatten über die Beziehung mit Wronski zu legen. Anna kehrt nach St. Petersburg zurück. Begegnungen mit Ihrem Sohn wie auch die Frustration über ihre scheinbare Isolation in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld nähren die Zweifel über Wronskis rückhaltlose Liebe – einzig Dolly steht zu Ihr.
Die Verzweiflung wächst: Der Selbstmord erscheint als unausweichliche Lösung. Trauer allenthalben – aber das Leben geht weiter.

Ein herausragender Ballettabend geht dem Ende entgegen. John Neumeier ist es mit dieser Choreographie großartig gelungen, den gut 800 Seiten umfassenden Roman Leo Tolstois in einem faszinierenden Handlungsballett darzustellen. Personen, Stimmungen und Konflikte in der soziokulturellen Umgebung Russlands des 19. Jahrhunderts werden durch den Tanz in Bewegung und Mimik überzeugend und stimmig dargeboten. Die Begeisterung für die Leistung des gesamten Ensembles wie auch für die drei bereits erwähnten, herausragenden Solist*innen Miriam Kacerova, Martí Paixà und Jason Railly hält noch lange an.
* Solisten: Miriam Kacerova (Anna Karenina), David Moore (Alexej Karenin), Martí Paixà (Graf Alexej Wronski), Jason Railly (Muschik), Clemens Fröhlich (Stiwa, Annas Bruder), Mackenzie Brown (Dolly), Matteo Miccini (Grundbesitzer Lewin), Yana Peneva (Kitty; Dollys Schwester), Alexei Orohovsky (Serjoscha; Sohn von Anna und Alexej) und Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Mikhail Agrest.
** Musik: Peter Tschaikowsky (1840 – 1893), Alfred Schnittke (1934 – 1998), Cat Stevens (1948 - *)
Ballett Julia & Romeo
Theater Basel (Anmeldeschl. 06.12.2024)
Ausflug zum Ballett „Julia & Romeo“ in das Theater Basel
Wir wussten es schon vorher: Der Vorschlag für einen Besuch des Balletts – besser des Tanzspektakels – „Julia & Romeo“ in Basel war mutig, sehr mutig – im Nachhinein müssen wir leider sagen – fast zu mutig!
Aber jetzt erst einmal von Anfang an: Wir hatten zwei sehr schöne Opernbesuche im Theater Basel hinter uns: „Salome“ von Richard Strauss und „L’incoronazione di Poppea“ von Claudio Monteverdi. In Baden-Baden durften wir uns am Ballett “Dona Nobis Pacem” von John Neumeier erfreuen und im aktuellen Programm erwartet uns „Anna Karenina“ in Stuttgart – ebenfalls von diesem Großmeister der Ballettchoreographie. So dachten wir, hätten wir vielleicht mit dem klassischen, sehr häufig bearbeiteten Thema „Romeo und Julia“ – Stopp! – mit „Julia & Romeo“ einen interessanten Vorschlag für unsere Musikfreunde. Am Theater Basel als radikales Tanztheater zweier isländischer Tänzerinnen und Choreographinnen angelegt, wollten wir uns durchaus auf eine mutige, spektakuläre, zeitgenössische Interpretation dieses Themas einlassen.
Wir meinten zu wissen, worauf wir uns einlassen. Am 22. November 2018 fand die Uraufführung in München im Gärtnerplatztheater statt. Die Kritiken der Zeitungen waren nicht übel und machten uns Mut. So hieß es in BR Klassik: „Eine extreme und polarisierende Tanz-Performance am Gärtnerplatztheater. Die beiden isländischen Choreographinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir zeigen Shakespeares Liebes-Tragödie als brutalen Abgesang auf Sexualität - das überzeugt“. Die „Süddeutsche Zeitung“, der „Münchner Merkur“ und die „Abendzeitung“ äußerten sich teils kritisch, teils mutig lobend. So schrieb der Merkur am 24/25.11.2018: „Man sollte sich auf dieses Island-Wagnis einlassen“.

Aber was uns in Basel tatsächlich erwarten würde, wussten wir nicht. Und so besuchten wir einige Tage vor der ersten Aufführung die in Basel übliche Informationsveranstaltung „Vor der Premiere“, die in einer gut 20-minütigen Bühnenprobe gipfelte. Die Ballettdirektorin Adolphe Binder, die Kostümdesignerin Hanna Kisch und der Musiker und Komponist Valdimar Jóhannsson schilderten uns Idee und Ausführung dieses exzessiven Tanztheaters: Uns wurde klar, dass das klassische Thema, die unerfüllte Liebe zweier Menschen, das klassische Ballett und auch die Musik von Sergej Prokofjew in den Hintergrund treten würden. Die Liebe zwischen Frau und Mann, Partnerschaft und Sexualität würden hier eine völlig neue, feministische oder auch diverse Neuinterpretation erfahren.
Aber leider hatte das Theater Basel genau mit diesen Momenten sehr stark Werbung für die Produktion gemacht. Sie hatten den ersten Teil als humorvolles und heiteres Tanzspektakel präsentiert und den zweiten Teil nach der Pause als blutige, archaisch-brutale, von E-Gitarren begleitete Performance beschrieben. Wir meinen: übertrieben. Und auch die der Premiere folgenden Kritiken in „Basler Zeitung“ und „NZZ“ folgten diesem Muster, so dass wir uns nicht wunderten, dass sich nur sehr wenige Interessenten für „Julia & Romeo“ fanden. Aber die Reservierungsfrist war noch nicht erreicht.
Was tun, hatte uns doch ein wenig der Mut verlassen? Anderseits stand die Frage im Raum: Was hatten wir in der „Vorpremiere“ nun wirklich erlebt?
Mithin wir zwei, die Organisatoren der Opern- und Ballett-Besuche, fuhren am 19.01.2025 alleine nach Basel. Wir gönnten uns vor dem Theaterbesuch die grandiose Matisse-Ausstellung „Einladung zur Reise“ im Museum der Fondation Beyeler in Riehen. Im Theater Basel angekommen, hörten wir uns die Einführung an. Und vielleicht verstanden wir sogar, dass man die Tragödie William Shakespeares „Romeo und Julia“ aus dem Jahr 1597 auch als Verheiratung einer liebenden Kindfrau mit einem natürlich dominanten, aber liebenden Mann im Umfeld brutaler, sich bekämpfender Familien verstehen kann. Bekanntlich begehen beide Liebenden Selbstmord.
Wir selbst sehen uns nicht als Ballett-Spezialisten und so empfanden wir das Ballett – besser – dieses Tanzspektakel als faszinierend ungewöhnlich. Es war ganz anders, als wir erwartet oder auch befürchtet hatten. Rudimentär und nur im Hintergrund versteckt begleitete im ersten Teil Prokofjews Musik die Tänzer. Die Compagnie bot insbesondere in ihrer Einheit, aber auch in Paaren oder Gruppen viele überraschende Momente, gelegentlich auch Zitate des klassischen Balletts. Das Klischee des stummen Tänzers war vergessen und so wurde geflüstert, rhythmisch gestöhnt und geschrien. Die Philosophie der Realisation, jede und jeder tanzt jede Rolle, wirkte stimmig. Das Ensemble agierte als überwältigende Einheit, konnte überzeugen. Leichtigkeit, Heiterkeit und Humor fanden sich gerade in der – allerdings recht lang geratenen – „Vorstellungsrunde“ der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer. Doch in nicht vorhersehbarer Weise stellten sich gegen Ende des ersten Teils leider auch Langeweile und Erschöpfung ein.

Der zweite Teil war dann alles andere als „langweilig“. Er war laut, „blutig“ und „gewaltvoll“. Am Anfang von elektrischen Gitarren begleitet, erlebten wir nur noch wenig Ballett, hingegen viel Gruppengymnastik, exzessiven Tanz: Es kam zum erwarteten, ekstatisch blutigen Tanzspektakel. Eine spannende Lichtführung unterstützte das Geschehen ebenso wie das sich immer bewegende, manchmal spärliche, teils aber schwülstige Bühnenbild mit einem herzförmigen Bett und schwebenden Neonherzen im Zentrum. Kitsch oder Kunst, das war hier die Frage. Aber verstörend oder gar abstoßend war dieses Tanztheater nie. Wir waren eigentlich immer fasziniert von der Dynamik und der Ästhetik auch der blutigen Szenen.
Hat es sich gelohnt? Eine schwer zu beantwortende Frage. Jeder von uns hat etwa 150 EUR ausgegeben für ein Experiment, für eine neue, nicht absehbare Erfahrung. Und wir können im Nachhinein jeden unserer Musikfreunde verstehen, der/die sagte: „Das ist es mir nicht wert“. Andererseits war das Basler Theater sehr gut besucht, fast ausverkauft. Das Publikum war ausgesprochen durchmischt, jung und alt, schick und locker und sicher nicht elitär. Vielleicht ist dies der Frage zutreffendste Antwort: „Man sollte sich auf dieses Island-Wagnis einlassen“, hatte der Münchner Merkur geschrieben und hervorgehoben, dass man sich auch in der Kunst nie neuen und ungewöhnlichen Wegen verschließen sollte.
Würden wir es wieder „wagen“: Ja!